Der Wille zur Ohnmacht: Adolf Eichmann

Vor 60 Jahren wurde der Prozess gegen Adolf Eichmann eröffnet. In seiner (weithin unbekannten) Autobiografie „Götzen“ entpuppte sich der Organisator des Holocaust als „gottgläubiger“ Esoteriker.

Vor 60 Jahren, am 11. April 1961, wurde in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann eröffnet. In dem Buch „Jenseits von Gut und Böse“ (auf dem „Entspannt euch!“ gründet) habe ich mich ausführlich mit der Biografie Eichmanns beschäftigt. Besondere Aufmerksamkeit widmete ich dabei dem „esoterischen Glaubensbekenntnis“, das der „Spediteur des Todes“ in seiner (weithin unbekannten) 660-seitigen Autobiografie „Götzen“ entwickelte. Denn ohne Kenntnis dieses Glaubenssystems ist nicht nachvollziehbar, warum Eichmann einerseits die Ermordung der Juden als „das kapitalste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte“ beschrieb, andererseits jedoch jede subjektive Verantwortung abstritt.

Was empfindet ein zum Tode verurteilter Gefangener, der bis zum Schluss seine „Unschuld“ beteuert, auf dem Weg zur Richtstatt des Henkers? Furcht, Verzweiflung, Wut, Enttäuschung? Adolf Eichmann war dergleichen nicht anzumerken. Er ging, wie Hannah Arendt berichtete, „ruhig und gefasst in den Tod“. Seine letzten Worte unter dem Galgen lauteten: „In einem kurzen Weilchen, meine Herren, sehen wir uns ohnehin wieder. Das ist das Los aller Menschen. Gottgläubig war ich im Leben, Gottgläubig sterbe ich.“

Hannah Arendt meinte, dass Eichmann bewusst die „Nazi-Wendung von der Gottgläubigkeit“ benutzt, dabei jedoch dummerweise übersehen habe, dass dies mit einer „Absage an das Christentum und dem Glauben an ein Leben nach dem Tode“ verbunden sei. Doch in diesem Punkt irrte sich die Philosophin: Eichmann hatte sich nämlich eine religiös-esoterische Weltanschauung zusammengebastelt, die nicht nur ein, sondern gleich mehrere Leben (im Sinne eines ewigen Kreislaufs von Wiedergeburten) nach dem Tod vorsah.

Eichmanns glaubte, wie er im Jerusalemer Gefängnis formulierte, „an eine allwaltende und allmächtige Schöpfungskraft, Lenker dessen, was war, was ist und was kommt. An ‚das Gott’!“ Er selbst sei als Mensch bloß „gemäß dessen Wollen und dessen Toleranz ein Mitfließendes im Fließen des Werdens, in unserem Sein.“ Und so vermochte Eichmann nicht, „den Sartreschen Standpunkt zu teilen, dass Leben wie Tod Absurditäten seien“.  Leben wie Sterben seien „von der Warte des Werdens im Sein aus gesehen“ zwar „unwichtig“, doch der „Gedanke an die Fülle der Lebensformen“, welche er „einem ehernen Naturzwang“ zufolge „noch zu durchleben“ habe, stimme ihn angesichts seines nahen Todes „heiter, glücklich und froh“.

Ganz in diesem Sinne bekräftigte Eichmann am Schluss seiner Memoiren den Glauben an die „Wiedergeburt“ und an die „kosmische Intelligenz“ jener „allwaltenden Ordnung“, die ihn in die „Daseinsform Mensch abkommandiert“ habe:

„Fünf Milliarden Jahre musste ich also warten, bis mich eine allwaltende Ordnung, auf eine kurze Zeit als Daseinsform Mensch ‚abkommandierte’. Ob ich in diesem genannten Zeitraum schon einmal als Erscheinungsform Mensch gegenständlich und gegenwärtig war, weiß ich nicht. Ob ich in künftigen Äonen wieder einmal zu solch einer ‚Kommandierung’ gelange, weiß ich auch nicht … Nur eines weiß ich sicher, dass ich nach Beendigung meiner augenblicklichen Lebensform unzählige andere Daseinsformen des organischen und anorganischen Lebens als Partikelchen des ‚Seins’ zu durchlaufen habe … Wie töricht war ich, nur im Sektor ‚Das Reich’, nur im engen, nationalistischen Verharren zu denken … Freude nutzend und wieder teilend, sollte alleine die wahre Lebensaufgabe des Menschen während seiner Erdenjahre sein. Alles andere lohnt wenig und ist so recht bedacht nicht einmal egoistisch. Es ist nur töricht, sonst aber nichts.“ (Originalzitat Eichmann)

Hierzu heißt es in „Jenseits von Gut und Böse“:

Es mag sein, dass sich Adolf Eichmann in seinen letzten Lebensmonaten tatsächlich von den „Göttern“ des Nazismus sowie vom „Logos des nationalen Denkens“ befreien konnte. Im Nachhinein lässt sich schwer beurteilen, ob die Darlegung dieser „neuen Haltung“ bloß ein taktisches Manöver war, mit dem Eichmann hoffte, die Richter beziehungsweise die Nachwelt für sich einnehmen zu können, oder ob er tatsächlich glaubte, was er schrieb. Aber selbst wenn wir im Zweifel für den Angeklagten urteilen und Letzteres annehmen, ist auffällig, dass Eichmann in einem zentralen Aspekt doch im autoritären Denken verhaftet blieb: Er konnte sich ein wirklich selbstbestimmtes Leben schlichtweg nicht vorstellen! Nun, da er nicht mehr unter dem Kommando des „Führers“ stand, glaubte er von der „allwaltenden Ordnung“ des Schicksals „abkommandiert“ zu sein. Die „Rolle“, die er im „Ablauf der Dinge“ zu „spielen“ hatte, erschien ihm von „höherer Stelle“, gewissermaßen von einer „Obersten Verwaltungsbehörde des Seins“, „zugedacht“. Dass er als handelndes Individuum frei, losgelöst von „höheren Anordnungen“, über sein Leben bestimmen könne, lag jenseits seiner Vorstellungskraft.

Woran liegt es, dass diese fatalistische Sichtweise Eichmann so ungemein beruhigte und ihn nicht zuletzt auch dazu befähigte, ruhig und gefasst in den Tod zu gehen? Um mit Erich Fromm zu sprechen: Eichmann gelang es mithilfe dieser Sichtweise, sich von der „Last der Freiheit“ zu befreien.

Was damit gemeint ist, erläuterte ich im Buch wenige Zeilen später:

Wenn wir von einer „Last der Freiheit“ sprechen, so haben wir ganz sicher nicht unsere Handlungsfreiheit im Blick. Kein Mensch, auch Eichmann nicht, empfand es je als Last, das tun zu können, was er wollte. Die einzige Freiheit, die als Last empfunden werden kann, ist eine Freiheit, die real gar nicht existiert beziehungsweise nur in Form eines virtuellen Memplexes wirksam werden kann: die Willensfreiheit. Es sind einzig und allein die moralischen Zuschreibungen, die aus der (kontrafaktischen) Unterstellung von Willensfreiheit erwachsen, die Individuen psychisch belasten. Denn so beglückend die Erweiterung unserer Handlungsfreiheiten auch interpretiert wird („Endlich kann ich tun, was ich will!“), so belastend kann der psychische Druck sein, der durch den Anspruch eines freien, angeblich von äußeren Faktoren unabhängigen Willens erzeugt wird („Was ist, wenn ich als selbstverantwortliches Individuum das Falsche will, wenn ich versage und die anderen über mich und meine Unfähigkeit negativ urteilen?“). Im Extremfall, so scheint es, folgen Menschen lieber den Fußstapfen eines größenwahnsinnigen Diktators, als dass sie sich einer solchen psychischen Belastung stellen und nach eigenen Wegen im Dschungel des Lebens suchen.

Mit anderen Worten: Gerade die Unterstellung von Willensfreiheit, also die Mutmaßung, das Individuum verfüge über die Macht, Naturgesetze zu überschreiten, nährt den Willen zur Ohnmacht, also das Bestreben, die Verantwortung für eigene Entscheidungen höheren Autoritäten (politische Führer, Gott, Schicksal etc.) zuzuweisen. Die hiermit einhergehende Befreiung vom Anspruch des eigenverantwortlichen Denkens bewirkt nicht nur, dass das fehlbare Individuum psychisch entlastet wird (Reduktion von Selbstzweifeln), es sorgt zugleich dafür, dass es sich bestens im Sinne der vorherrschenden Gruppenideologie formen lässt (Stärkung des Wir-Gefühls).

Wie wir alle wissen, hat der Unterwerfungszwang, dem Adolf Eichmann unterlag, vielen Millionen Menschen das Leben gekostet. Doch er ist längst noch nicht ausgestorben, sondern blüht derzeit in nationalistischen und religiös-fundamentalistischen Kreisen wieder auf. Es scheint sogar, dass in unserer Zeit, in der den Individuen vergleichsweise viele Handlungsoptionen offen stehen, in der ihre Lebenswege nicht (wie in der Vergangenheit) schon von Geburt an weitgehend sozial festgelegt sind, die Attraktivität solcher Unterwerfungsideologien wächst. Ihr Vorteil: Sie bieten Inseln der Geborgenheit in einem Meer der Unübersichtlichkeit, geben Halt und Orientierung und entlasten so das von den vielen Handlungsoptionen überforderte und vor möglichen „Verfehlungen“ zurückschreckende Individuum.

Diese Unterwerfungsoption ist für viele Menschen verführerisch, widerspricht jedoch fundamental den Prinzipien der offenen Gesellschaft. Wie also lässt sich der Wille zur Ohnmacht wirksam bekämpfen? Politische und ökonomische Maßnahmen (etwa soziale Absicherungssysteme), welche die „Furcht vor der Freiheit“ abmildern, sind hierbei unerlässlich, reichen aber nicht aus. Sie müssten begleitet sein von einer grundlegenden Reform des Bildungssystems, das sehr viel stärker darauf ausgerichtet sein sollte, antiwissenschaftliche und menschenrechtsverletzende Ideologien zu entzaubern. Denn wir brauchen ein rationales, evidenzbasiertes Weltbild, um eine entspanntere, gelassenere Lebenshaltung zu entwickeln. Und wer diese erst einmal verinnerlicht hat, wird die großen Freiheiten einer offenen Gesellschaft emphatisch begrüßen, statt zwanghaft vor ihnen zu flüchten.


Anmerkung: Der Fall "Eichmann" wird in dem Buch "Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ihne Moral die besseren Menschen sind" (Pendo/Piper 2009) in drei Kapiteln behandelt: "Erste Zwischenbilanz: Die Banalität von Gut und Böse" (S.100-105); "Die Furcht vor der Freiheit: Eichmann oder der Wille zur Ohnmacht" (S.147-156) sowie "Alles ist Schicksal? Wie fatalistische Ideologien unserer Freiheit untergraben" (S.158-169).